Mittwoch, 2. Mai 2012

Zirkusmission

Zirkusmusik klingt durch mein Küchenfenster, während ich mich mal wieder in tiefster Selbstreflexion über meine Kernkompetenzen als Vikarin befinde. Ich wippe sachte mit. Morgen zieht der Zirkus weiter und ich werde ihn verpasst haben - schade, eigentlich. Die Musik trägt Kindheitserinnerungen in meine Stube. Damals, als ich ganz unreflektiert eine grosse Tüte Popcorn vor den Augen der Elefanten verschlungen habe und dem kleinen Mann des Zirkus Knie noch kaum über die Schulter gewachsen bin. Das war schön, eine Welt ohne nachdenken zu müssen über den situationsgerechten Einsatz von Symbolen!

Das penetrante Geräusch meiner Klingel reisst mich aus der fernen Zirkuswelt. Wer klingelt mitten am Nachmittag in meine abschweifende Selbstumgarnung rein? Es sind zwei nette Frauen, die zu mir hinaufschauen. Ich habe sie noch nie gesehen. Erster Gedanke: Nein, das Auto, das hier falsch parkiert ist, gehört mir nicht. Doch die Frau sagt: "Grüezi! Das ist schön, dass wir sie antreffen! Wir bringen Ihnen ein Buch vorbei." - ? - "Die Bibel" - Ich bin irgendwie sprachlos, weil ich gerade nicht verstehe, weshalb mir diese Frau eine Bibel bringen will. Es liegen ja schon drei vor mir auf dem Tisch. - "Es geht darum zu verstehen, was richtig im Leben ist." - Willkommen auf dem gleichen Dampfer! Fast will ich sagen, dass ich mich gerade selber reflektiere. Dann finde ich meine Sprache wieder: "Ich bin Pfarrerin." - Die Frau macht ein langes Gesicht: "Aha, dann wissen sie ja schon etwas darüber..." - Nun ja... Weiss ich das? Ich sage: "Ich habe schon einen ganzen Stapel Bibeln bei mir. Ich bin eigentlich versorgt. Sie rennen quasi offene Türen ein." - Die Frauen sehen ein, dass sie ihr Buch wieder einstecken können.

Ich setze mich hin und beuge mich wieder über die Liste der Kompetenznachweise, die ich mir selber aussuchen und zuschreiben darf. Der dunkelblaue Audi vor meiner Tür nervt. Soll mal wegfahren. Der gehört sicher Geraldine.