Montag, 10. November 2014

Ist Prostitution ein notwendiges Übel?

Prostitution hat nicht in erster Linie mit Sex zu tun, sondern mit Käuflichkeit und Macht. Prostitution ist den Regeln des Marktes unterworfen: Nachfrage und Angebot. Prostitution ist eine weltweite Industrie, die Menschenhandel und Sklaverei fördert und bis weit in unsere Machtzentren hineinreicht. Sie beruht nicht auf Freiwilligkeit (obwohl auch hier die Einzelfälle die Regel bestätigen mögen), sondern auf Not und finanzieller und seelischer Ausbeutung. Solange es diese Industrie gibt, müssen die Frauen, die sich prostituieren, mit allen Mitteln geschützt und entkriminalisiert werden, damit sie die Chance zum Ausstieg und auf ein menschenwürdiges Leben haben. Aber es muss diese Industrie nicht geben. Eine andere Welt ist möglich, und ich bin deshalb davon überzeugt, weil ich weiss, dass Männer nicht per naturam 'so sind'. Das ist Quatsch. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Frauen allen möglichen Geschlechterclichés unterworfen. Aber gesellschaftliche Reformen im Zuge der feministischen Bewegung haben gezeigt, dass Frauen nicht 'so sind'.

Ein Mann, der Frauen und sich selber wertschätzt, geht nicht zu Prostituierten, sondern befriedigt seinen sexuellen Drang anderweitig. Dazu braucht es nicht mal unbedingt eine Sexualpartnerin. Prostitution geht weit  über sexuelle Befriedigung hinaus. Hier geht es um Macht und Geld. Der Körper wird zur Ware degradiert und entbehrt jeglicher Menschlichkeit. Dass dies nicht einfach die Meinung einer Frau ist, zeigt die Aktion 'Männer gegen Prostitution' des internationalen Netzwerks 'Zeromacho'. Fast 2800 Männer aus 56 Ländern haben das Manifest mittlerweile unterschrieben. Sie wehren sich gegen diese 'extreme Form von Machismus' und gegen das damit verbundene Männerbild. Die selbstbewussten Männner lassen sich für die Aktion mit einem Schild "Fier de ne pas être client" ablichten. Einer der Protagonisten der Bewegung, Hans Broich, hat sich sogar für die Titelgeschichte der letzten EMMA fotografieren und interviewen lassen - mit der Unterstützung seiner Freundin, aber gegen den Ratschlag seines Vaters (das schade seinem Image). Auf die Frage, ob er sich nie überlegt habe, mal in ein Puff zu gehen, antwortet er: "Nein! Das ware für mich nie in Frage gekommen. Ich würde mich zu Tode schämen. Ich möchte keinem Menschen auf diese Weise begegnen." (EMMA Mai/Juni 2014) Ich vermute, dass viele der unterzeichnenden Männer keine Christen sind, und doch scheint mir, dass hier weit mehr am Gottesreich auf Erden gebaut wird, als in vielen christlichen Reihen, wo man vor weltlichen 'Tatsachen' kapituliert.

(Wer das Manifest unterzeichnen will: http://zeromacho.wordpress.com/le-manifeste_de/)

Bereits für Apostel Paulus ist der menschliche sexuelle Drang ein Thema (wie so oft auch hier auf Männer beschränkt). Er empfiehlt zwei aus seiner Sicht moralisch einwandfreie Lebensmodelle (siehe 1 Korinther 7). In Paulus' idealen Welt würden alle Männer alleine leben und ihren sexuellen Drang kontrollieren, damit sie sich auf das Wesentliche konzentrieren können, nämlich auf die Beziehung zu Gott und auf das Gemeindeleben. Weil Paulus aber weiss, dass Selbstdisziplin nicht allen Männern gegeben ist, empfiehlt er die Ehe als Alternative zum zölibatären Leben. Es sei besser, seine Schwäche anzuerkennen und Sexualität in einer Partnerschaft auszuleben, als sich einem unlauteren Lebensstil hinzugeben. Nach Paulus ist Sexualität eng mit Partnerschaft, Gegenseitigkeit und Respekt verbunden, auch wenn er hierbei etwas über das Ziel hinausschiesst, wenn er sagt: "Die Frau verfügt nicht selbst über ihren Leib, sondern der Mann; gleicherweise verfügt aber auch der Mann nicht selbst über seinen Leib, sondern die Frau." Paulus' moralisierendes und heterozentrisches Bild von Ehe hat viel Schaden angerichtet, und wir haben uns erst gerade auf den Weg gemacht, die Wunden zu heilen. Nichtsdestotrotz zeigt Paulus hier klar Haltung, und ich denke es geht nicht zu weit zu vermuten, dass sich Paulus im Korintherbrief auch gegen Prostitution als sexuelles Notventil richtet.

Frühchristliche historische Quellen berichten von brutaler mönchischer Selbstkasteiung. Die Mönche haben sich in der Nacht im Schnee gewälzt und sich selbst blutig geschlagen. Die Unterdrückung von Sexualität führt zu Gewalt, entweder gegen andere oder gegen sich selbst. Für viele Kirchen ist die Befriedigung sexueller Bedürfnisse bis heute nur innerhalb einer heterosexuellen Ehe moralisch vertretbar. Ausserehelicher und gleichgeschlechtlicher Sex sind genauso ein Tabu wie Selbstbefriedigung und es wird mit nichts geringerem als mit dem ewigen Fegefeuer gedroht. Die daraus resultierende Frustration kann sich nur in Gewalt entladen: entweder gegen andere oder gegen sich selbst, wie die mönchischen Quellen zeigen. Prostitution befriedigt nicht in erster Linie das Bedürfnis nach Sex, sondern das Bedürfnis, die Macht über den eigenen Körper zurückzugewinnen - durch die Ermächtigung über einen anderen Körper.

Wenn es um Prostitution geht, spricht man sofort von frustrierter männlicher Sexualität. Das soll als Grund herhalten, Prostitution zu rechtfertigen. Aber wie ist das eigentlich mit frustrierter weiblicher Sexualität? Darüber wird kaum geredet. Frauenlust und -körperlichkeit sind unangenehm (siehe auch meinen Blogeintrag 'Blutige Tatsachen') und werden bis heute von vielen Kirchen gnadenlos unterdrückt. Obwohl es Männer in der Prostitution gibt und auch Frauen Sex kaufen, und obwohl es dabei genauso sehr um Macht und Ausbeutung geht wie andersrum, so gibt es doch einen relevanten Unterschied: es hat sich nie eine Industrie herausgebildet, die das männliche Geschlecht systematisch zum Gegenstand degradiert, und das obwohl die weibliche Sexualität ungleich stärker unterdrückt wurde (und immer noch wird). Warum ist das so? Weil Frauen ihre aus Frustration und Abwertung resultierende Aggression eher gegen sich selber richten. Und weil es tief im gesellschaftlichen Unterbewusstsein verankert ist, dass Frauen das käufliche Geschlecht sind.

Hinter der Rechtfertigung von Prostitution steckt oftmals ein negatives Männerbild und die Kapitulation vor sogenannten 'Tatsachen'. Man wirft einer Feministin gerne vor, Männerfeindin zu sein. Ich habe das selber schon oft gehört. Es ist genau andersrum: ich liebe Männer, aus dem einfachen Grund, weil ich Menschen liebe und an das Gute in jedem glaube. Die nigerianisch-amerikanische Feministin Chimamanda Ngozi Adiche kennt diesen Vorwurf auch, und nennt sich deshalb: "Happy African Feminist Who Does Not Hate Men". Ja, ich liebe die Männer so sehr, dass in Rage gerate, wenn behauptet wird, dass Männer die Prostitutionsindustrie bräuchten, um natürliche Triebe zu befriedigen. So ähnlich hatte sich kürzlich der Präsident des Schweizerisch Evangelischen Kirchenbundes geäussert und damit die Prostitution gerechtfertigt. Ich finde ein solches Männerbild unfair und degradierend, und ich hoffe, dass sich meine Kollegen in der Schweiz gegen diese Rhetorik wehren. Ich wehre mich mit, so wie sich viele Männer bis heute für Frauenrechte wehren. 

Der berührende Film 'Pride' erzählt vom Schicksal der Minenarbeitern in Nord-England in den Achtzigerjahre, und wie diese unerwartet (und anfänglich unerwünscht) Unterstützung der Schwulen- und Lesbenbewegung in London erhalten. Einer der Protagonisten sagt: "What's the point of supporting worker's rights, but not gay rights. Or gay rights, but not women's rights." Unterdrückung ist die Absenz von Menschlichkeit und Mitgefühl. Es geht nicht darum, wer am meisten unterdrückt wird, sondern es geht darum, DASS unterdrückt wird.

Ich wehre mich für die Gleichstellung der Geschlechter, und dazu gehört das unumstössliche Recht der Männer, ihre eigene Wahl zu treffen und sich selbst sein zu dürfen. Männer wollen weinen dürfen. Männer wollen gute Familienväter sein dürfen. Männer wollen nicht immer stark sein. Männer wollen nicht in den Krieg ziehen. Oder wie Herbert Grönemeyer singt: "Männer haben's schwer, nehmen's leicht, außen hart und innen ganz weich, werd'n als Kind schon auf Mann geeicht. Wann ist ein Mann ein Mann?"

WEIL ich Männer wertschätze, bin ich überzeugt, dass eine Welt ohne Prostitution möglich ist. Prostitution ist nicht ein notwendiges Übel, das Männer brauchen, um friedlicher zu sein, und ihre Aggressionen zu zügeln. Dass der Wirtschaftszweig Prostitution als Geschäft der Erniedrigung nach wie vor floriert, zeigt lediglich, dass wir in Sachen Gleichstellung der Geschlechter noch einen weiten Weg vor uns haben. Immerhin: wir sind auf dem Weg. Viele Männer, die ich kenne und schätze, sind zärtlich, verletzlich und nachdenklich. Sie sind so, weil ihnen zugestanden wird Mensch zu sein und weil sie einen gesunden und freien Bezug zu Frauen und zu ihrem eigenen Körper haben. Sie müssen nicht andere unterdrücken, um der Welt und sich zu beweisen, dass sie harte Kerle sind. Diese Männer wehren sich denn auch gegen Prostitution, weil sie sich nicht mit dem degradierenden Männerbild identifizieren können, das mit Prostitution verbunden ist. Sie haben den Mut, Männlichkeit neu zu definieren.

Es ist nicht naiv, sich eine Welt ohne Prostitution vorzustellen. Wenn das so wäre, dann könnte ich meinen christlichen Glauben an das Reich Gottes auf Erden allgemein aufgeben. Dazu bin ich nicht bereit. Ich bin überzeugt, dass Menschen lernen können, sich selber und andere wertzuschätzen, und dass der Wunsch nach Partnerschaft und Zuneigung in allen Menschen angelegt ist. Es fängt damit an, dass wir uns gegenseitig zugestehen, uns selber zu sein, egal ob Mann oder Frau.

Die Prostitutionsindustrie ist nicht ein notwendiges Übel. Sie ist einfach nur ein Übel. Für Frauen UND für Männer. Aber vor allem für Frauen.

Wir Kirchen müssen uns selber in die Pflicht nehmen und endlich anerkennen, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht nur eine Nebensache ist,  die Geld kostet, sondern die Grundlage für eine gerechte und freie Welt.




Donnerstag, 11. September 2014

Gesegnet sei die Zeit...

Er erhebt seine Arme, in seinem weissen Gewand mit wunderschönen Stolen und gold-leuchtendem Schmuck um den Hals. Dann segnet er die Uhr, segnet die Zeit, die uns gegeben ist auf Erden und die guten Stunden. Die Uhr ist eine Schweizer Bahnhofsuhr. Dreitausend Stück hängen an Schweizer Bahnhöfen, in Lyssach genauso wie in Gossau und Neuchatel. Seit einigen Wochen hängt auch eine am Borough Market in London, ein beliebtes Food Paradies für Londoner und Touristen.

Während den Olympischen Spielen stand das 'House of Switzerland' gleich hinter dem Borough Market an der Themse. Sportgrössen und nicht so Grosse trafen sich und sogen die einmalige Atmosphäre der Olympischen Spiele ein. Zum Dank für die Gastfreundschaft des Borough of Southwark (also das Gemeindegebiet, das das House of Switzerland beherbergte), schenkte die Schweiz der Gemeinde eine Mondaine Bahnhofsuhr, die nun über die Zeit am Borough Market wacht. So schaffen es die Touristen auch noch rechtzeitig ins nahe gelegene Tate Modern oder auf den Zug zurück zum Flughafen.


Die Schweizer Bahnhofsuhr am Borough Market


Die Bahnhofsuhr wurde vom Schweizer Botschafter und dem Mayor of Southwark feierlich eingeweiht . Es gab Champagner, Musik von Heidi Happy (die am darauf folgenden Tag auch in der Swiss Church spielte), und die ganze Swiss Community kam zusammen. Für das Team der Swiss Church war es ein willkommener Team Ausflug. Wir sahen alte und machten neue Freunde.

An der Einweihung beteiligt war auch der Bischof der Kathedrale von Southwark, eben er, der die Uhr segnete und ein denkwürdiges Gebet sprach. Eine schöne Idee, die dem Anlass noch eine zusätzliche Tiefe gab. Dann fing ich an eins und eins zusammen zu zählen und kam nur auf drei: auf staatlicher Seite kamen zwei Vertreter zu Wort, auf kirchlicher Seite einer, nämlich der Bischof von Southwark, also Repräsentant der anglikanischen Kirche. Sollte da nicht...? Ja, da sollte! Da sollte auch ich zu Wort kommen, die Pfarrerin der Schweizer Kirche in London. Ich stand etwas perplex da in meinem Kollarhemd, hätte gerne mit dem Kollegen zusammen den Segen gesprochen. Nur bin ich eine Kombination, die man dann in diplomatischen Momenten gerne vergisst. Ich bin eine Frau. Ich bin jung. Und ich repräsentiere eine basisdemokratische Kirche, in der Pfarrpersonen nicht durch Hierarchie und Gewänder die Aura der Macht verliehen wird. Das ist auch gut so. Und gerade deshalb trifft es mich umso mehr 'vergessen' zu gehen. Ich vertrete dieses basisdemokratische Kirchenprinzip mit jeder Faser meines Körpers. Ich nehme es in Kauf, nicht die gleiche Stellung wie ein Priester oder ein Bischof zu haben und deshalb manchmal mit gebundenen Händen da zu stehen. Ich bin da, um andere zu ermutigen, Raum einzunehmen und das Reich Gottes zu gestalten. Nicht ich stehe im Zentrum, sondern die Gemeinde. Aber es gibt trotzdem Momente, da gehöre ich ins Zentrum, als Pfarrerin der Schweizer Auslandgemeinde in London. Zum Beispiel wenn der anglikanische Bischof in Anwesenheit des Botschafters und des Bürgermeisters eine Schweizer Bahnhofsuhr segnet.

Hierarchische Strukturen sind stärker und mächtiger, als wir uns eingestehen. Sogar die demokratische Schweiz lässt sich manchmal blenden. Und ich mich auch. So hat mir die Situation selber wieder einmal vor Augen geführt, dass auch ich mich manchmal von der Aura der Macht einnehmen lasse. Wir tun es alle, ständig. Und wir müssen uns das immer wieder selbstkritisch bewusst machen. Sonst wird das nix mit der Basisdemokratie und der Geschlechtergerechtigkeit.

Bevor ich das Zeitliche segne, gibt es noch viel zu tun.

 

Donnerstag, 14. August 2014

Blutige Tatsachen


Vielleicht ist dies der Anfang des Buches, das ich schon lange hätte schreiben sollen. Wahrscheinlich wird dies eine Blog-Serie, die schon lange fällig war, aber die ich irgendwie übersehen habe, weil Frausein für mich der alltägliche und eingefleischte 'Normalfall' ist. Geschichten habe ich Dutzende im Köcher: Skurrile, befreiende, erschütternde Geschichten. Geschichten von unerfüllten Träumen und innerer Zerbrochenheit, Geschichten von spiritueller Befreiung und gemeinsamem Aufbruch. Sie sind alle irgendwie verbunden mit diesem einen Thema: Frau und Kirche... und die Ordinationsfrage.

Historisch, ökumenisch, liturgisch, gesellschaftlich, modisch, emotional, biologisch: Alle geschilderten Erlebnisse haben so statt gefunden. Und nun geht's los:


Seit 2010 bin ich engagiert im  Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa. Davor habe ich vier Jahre lang für die Konferenz Europäischer Kirchen gearbeitet. Meine Ausbildung zur Pfarrerin habe ich in der ökumenischen Gemeinde Halden in St.Gallen absolviert. Ökumene ist in meinem Blut und prägt mich als Pfarrerin. Ich meine damit weit mehr als das nette Zusammensein und Feiern mit der katholischen Nachbargemeinde. Ich meine das Verwobensein, Streiten, gemeinsame Weinen und Hoffen, das Abgelehntsein und trotzdem Freunde sein, das Aushalten unüberbrückbarer Differenzen mit orthodoxen, christ- und römisch-katholischen, methodistischen und baptistischen, lutherischen und reformierten Frauen (und Männern). Ich meine das tiefe Erleben und Entdecken, wie anders die anderen sein können - zum Verzweifeln und Jubeln anders.

Letzte Woche war ich in Griechenland auf der orthodox-katholischen Insel Tinos an der Generalversammlung des Frauenforums. Am ersten Abend sass ich neben einer Griechin, so ungefähr mein Alter, Tänzerin und Künstlerin, und wir verstanden uns blendend.

"Und was machst du so in deinem Leben?", fragt sie mich. "Ich bin Pfarrerin." Sie schaut mich irritiert an. "Was ist das?" Ich zeige zum Nebentisch, wo ein katholischer, ein evangelischer und ein orthodoxer Priester in ihren schwarzen Roben sitzen: "So wie die, in der Kirche." - "Priesterin?" - "Ja so quasi. Mit Abendmahl und Taufen, Beerdigungen und Hochzeiten und auch so einer Robe." - "Das gibt es??", fragt sie. "Wo gibt es denn das?", fragt sie. Ich erkläre ihr die Sache mit der Frauenordination in der  reformierten Kirche. Ihre Augen werden immer grösser. "That's beautiful, I didn't even know women could be priests!" Uns war beiden nach Weinen und Lachen zugleich.

"Setzt du das Abendmahl ein?" - "Ja, auch." - "Mein Priester sagt, ich dürfe nicht zur Heiligen Kommunion, wenn ich meine Tage habe..." Sie zögert, dann flüstert sie: "Wie ist das denn, wenn du deine Tage hast?" - "Dann teile ich auch das Abendmahl aus", sage ich. "That's amazing, so you're fully accepted with your female body", ruft sie aus. Naja, solange ich es nicht thematisiere wohl schon, denke ich mir.

Wir tauschen Nummern aus und sie fragt mich, ob sie auf ihrem nächsten London-Besuch in meine Kirche kommen kann, um am Abendmahl teilzunehmen. Ja, das kann sie.

 
Blut Christi, für uns gegeben.

 

Donnerstag, 26. Juni 2014

Die volle Kirche

Meine liebe LeserInnenschaft, ja, es gibt mich noch. Im Gewusel der Grossstadt halte ich meinen Kopf tapfer über Wasser und fahre inzwischen gerade so gelassen U-Bahn wie die hier Aufgewachsenen (es gibt sie tatsächlich!). Der Trick ist, dass man sich einfach nicht anmerken lässt, wie sehr man diese stinkige, hitzige Röhre eigentlich verabscheut. Klar, die Füsse tun weh, oder der Rücken, oder der Kopf, und eigentlich hätte man den Sitzplatz doch eigentlich viel nötiger als der junge Schnösel oder die aufgekratzten Touristen, aber was soll's. Wenn die Haustür hinter einem ins Schloss fällt, ist das alles schon ganz weit weg. Beine hoch, Algerien - Russland gucken, und langsam wegdösen.

Was zieht in London lebende SchweizerInnen in Massen in die Kirche? Die tiefsinnigen Predigten der Pfarrerin? Der hochbegabte Organsist? Die leckere Supper des Gemeindearbeiters? Falsch! Zweiundzwanzig Männer und ein Ball. Beim Spiel Frankreich - Schweiz wurde die Kirche regelrecht überflutet (250 Menschen) und das Appenzeller Bier war schon vor dem Anpfiff ausverkauft. Die bittere Niederlage musste mit Bier aus der Büchse vom lokalen Lädeli runtergespült werden. Sagt man. Denn ich war gar nicht da, sondern in Niederteufen, in der echten Schweiz. Obwohl Covent Garden an jenem Abend auch ein bisschen Schweiz war.

Bei meiner nächsten Predigt versuch ich's mal mit Tschüttelerschuhen und einem Fan-T-Shirt. Auch Abendmahlbier statt Abendmahlwein wäre vielleicht eine Überlegung wert.

Aber zuerst geht es ab nach Holland, nicht zum Fussball schauen, sondern ins Dominikanerinnen-Kloster Huissen, wo ich mit Kolleginnen aus Belarus, Schottland und Deutschland das erste europäische 'Pop Up Monastery' (neudeutsch für Kloster auf Zeit) für Frauen plane. Das findet im August 2015 im Kloster Mariensee bei Hannover statt. Frauen aus allen europäischen Ländern werden sich zwei Wochen zum Beten, Pilgern, Denken, Gärtnern, Singen, Diskutieren und Kochen treffen. Und vielleicht liegt ja auch irgendwo auch ein Fussball im Gebüsch.


Dienstag, 20. Mai 2014

Rendez-vous mit dem Sensemann

London ist die Stadt der Trends. Was ist eigentlich ein Trend? Anders Bjoerk, Ideenjaeger, definiert 'Trend' in seinem Blog folgendermassen: "Ein Trend ist etwas, das kommt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist es noch nicht ganz da, ja die wenigsten wissen, dass da überhaupt etwas kommen wird."

Nun setzt sich in London ein neuer 'Trend' fest, der eigentlich gar kein Trend sein kann, weil er schon immer war und ganz bestimmt  fuer jeden kommen wird: der Tod. Und der kennt kein 'vielleicht'. Es stimmt zwar, dass er fuer uns Lebenden noch nicht ganz da ist, und tatsaechlich wollen die Wenigsten wissen, dass er kommen wird. Und doch kann der Tod nach Definition kein Trend sein.

Doch genau das ist er in London. Im Ausgehmagazin 'TimeOut' geht das so: "Forget train spotting: tomb spotting is London's trendy new pastime." Man verbringt die Sonntage auf den ueberwucherten alten Friedhoefen, haelt nach Graeber Ausschau und findet das nicht etwas 'depressing' sondern 'comforting' (beruhigend). Dasselbe Magazin hat letzte Woche auf Veranstaltungen der Wohltaetigkeitsorganisation 'Dying matters' (Wortspiel: 'Tatsachen zum Sterben' oder 'Sterben spielt eine Rolle') hingewiesen, die waehrend einer Woche Moeglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Tod angeboten hat (Besuch eines Strebehospiz, Kaffeetrinken auf dem Friedhof, Vortraege etc).

Gerade hier in England ist das bitter noetig. Selten habe ich eine Kultur erlebt, die sich ums Altwerden, Streben und den Tod so wenig Gedanken macht - oder wohl treffender: das Thema so krass tabuisiert. Altersvorsorge? He, du bist doch erst dreiundreissig! Da musst du dir doch keine Sorgen machen! Besprechen von Erbvertraegen mit den Eltern? Wie makaber! Das Teilen von Beerdigungswuenschen unter Freunden (sollte der Sensemann unerwartet frueh aufwarten)? Nein also wirklich, als wuensche man sich gegenseitig den Tod an den Hals! Sinnieren darueber, was wohl nach dem Tod kommt? Religioeses Geschwafel!

Das scheint sich zu aendern. Der Tod ist zuerueck. Endlich! Und obwohl der Tod selber zwar kein Trend ist, kein Trend sein kann, so faellt doch die Auseinandersetzung damit in diese Kategorie. Und dieser Trend bleibt hoffentlich nicht beim 'vielleicht'.

Dienstag, 29. April 2014

Like to alienated siblings who grew up in the same household...


"The UK is a Christian country.” The Prime Minister’s Easter message sparked outrage among humanists and atheists. The Archbishop of Canterbury put more oil in the fire by publicly backing Mr Cameron’s position, saying that he finds critical remarks made by “atheist protesters baffling”. Not enough, various non-Christian religious communities acknowledged the views of the political and Anglican leadership. Instead of taking the Prime Minister’s remarks as an occasion to enter into dialogue at eye level with humanist representatives, the political leadership and the leadership of the Established Church stood together as if to prove a point - but to prove what?

The UK is a country with a Christian past, and historically speaking, the societal order remains strongly influenced by its Christian heritage, with the House of Bishops representing the Church of England in government and the Queen as the head of this Church, just to mention the most obvious. Not even atheists and humanists would reasonably doubt this. (Whether they are content with it, is another matter.) As churches, we have a choice of how to position ourselves: we can choose to join in with the polemic rhetoric of the political leadership, putting ourselves in the corner of self-defensiveness. Or we can chose the way of dialogue and acknowledge the constructive influence of non-religious world views on the course of society - by far our most challenging and closest dialogue partner. Atheism and Christianity are like two alienated siblings who grew up in the same household before the younger sibling went into opposition to the older sibling. All those who have an older brother or sister will be familiar with this feeling. Atheism is a recognised subject in Christian theology. In its modern form, Atheism developed in opposition to a predominately Christian Europe where the churches had an often traumatising influence on people’s life - in the name of God. Having been something between an agnostic and an atheist myself until my mid 20ies (and still acknowledging my past as part of my Christian faith), my reflections derive from personal experience and struggle. Fortunately, I don’t have to go into opposition with people holding non-religious world views anymore.

It was not surprising that non-Christian religious communities reacted positively to Mr Cameron’s remarks. Religions defend the same interests of a society founded on faith based morals. Undoubtedly, churches all over the world have been major contributors in easing the conflicts between different religions, and after an awfully violent and intolerant past, many countries in Europe achieved some sort of peaceful coexistence, some even a friendly cooperation and the granting of religious freedom. The UK is one of the most progressive nations in this respect and the churches deserve credit for this incredible journey. (Whether it has always happened out of theological conviction or to a great deal also out of political convenience remains a topic for critical reflection.)

In its ‘White Paper on Intercultural Dialogue’ from 2008, the Council of Europe (not to be mistaken for the Council of the European Union) says: “Those holding non-religious world views have an equal right to contribute, alongside religious representatives, to the debates on the moral foundations of society and to be engaged in forms of intercultural dialogue.” (p.23) When I was working for the Conference of European Churches and with the Council of Europe, I helped organising dialogue seminars with representatives from religious communities as well as humanist societies. These experiences made me realise how full of prejudice and fragile the dialogue between religious communities and secular world still is. The ‘Christian country’ rhetoric rightly points out that every culture has a religious dimension. But it is also true the other way around: there is always a cultural dimension to religion too, and secularism undoubtedly influences (former) Christian societies. What do we make of it?
 
There is more to this debate than just rhetoric, as ‘The Telegraph’ pointed out in an article on the 27th of April. The Prime Minister offered privileged access and public funds to Christian groups. “Many non-religious organisations helping domestic violence and sex trafficking victims will miss out”, Joan Smith, author of the article, warns. Many Christian organisations “have a traditional view of the sanctity of marriage, yet it is vital for the safety of women and children that they are helped to leave abusive relationships. […] A traditional Christian view of gender roles can’t just be wished away.” Secular charities might be better placed to offer help in specific areas than churches, and we would do better to acknowledge the importance of this work. Traumatic experiences with churches in the past (and up to today) remain in people’s unconscious perceptions over generations.

In an interview with The Telegraph, the former Archbishop of Canterbury, Lord Williams, makes a much needed distinction. No, we are not a Christian country as a nation of believers, he says. But yes, we are still much shaped by this vision of the world. He also says: “We have a younger generation now who know less about this legacy. People can rediscover Christianity with a certain freshness, because it’s not the ‘boring old stuff that we learnt at school’. There is a curiosity about Christianity.” This covers very much with my daily experience in my ministry in Covent Garden. We don’t need to panic or to feel threatened. We are part of a wonderfully diversified country which we should explore in a curious and non-judgemental manner, knowing that we have a lot to offer too. Self-defensiveness has never opened the door to dialogue. So let’s leave it behind us.

Samstag, 26. April 2014

Andrew schläft

Es ist 3 Uhr in der Früh. Ein eisiger Wind weht durch die Gassen Covent Gardens in dieser Osternacht. In der Swiss Church halten 12 Menschen zusammen eine Osterwache. Das gemeinsame Wachsein, Beten und Meditieren schweisst uns zusammen. Ich trete vor die Tür, um frische Luft zu schnappen.

Die Endell Street ist menschenleer. Ein leerer Nachtbus fährt die Shaftesbury Avenue hinunter. Das fällt mir der Mann auf. Nur ein paar Häuser weiter erscheint er aus einem Hauseingang - seine Bleibe für die Nacht. Es ist viel zu kalt, um draussen zu schlafen. Der Mann geht die Strasse rauf, kommt mir entgegen Richtung Kirche. In der Hand hat er eine Decke, mit der er wie aus Wut und mit lauten Schreien der Verzweiflung um sich schlägt. Er sieht mich erst, als er näher kommt. "Sorry, I didn't see you. Didn't want to scare you." Ich bitte den Mann herein, biete ihm Tee an. Er bedient sich von unserem Nacht-Buffet.

Andrew ist aus Simbabwe und lebt seit elf Monaten als politischer Flüchtling in London. Sein Asylgesuch wurde noch nicht bearbeitet. Er schläft draussen. "I thought I'm going to die this night - it's so cold. I can't believe you just appeared at the right moment!" Nach einer halben Stunde geht er wieder. Er muss in einem anderen Stadtteil seine Tasche aus dem Gebüsch holen.

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Es ist 6 Uhr in der Früh. Mit einem Osterfeuer im Garten der Nachbarkirche feiern wir die Auferstehung Christi. Das offene Feuer im Metallbehälter mitten in der Grossstadt. 

Um 7 Uhr ist Andrew zurück. Er setzt sich zu uns zum Frühstück, dann schläft er auf dem Stuhl ein. Ich rüttle ihn sanft an der Schulter und zeige ihm unser Matratzenlager im oberen Stock. Er legt sich hin.

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Um 10:30 feiern wir Ostergottesdienst mit über 60 Gemeindegliedern. Wein und Brot gehen uns fast aus. In der Mitte auf dem Boden das Ziegelsteinkreuz. Nach einer schlaflosen Nacht verhilft mir das Adrenalin  nochmals zu neuen Kräften und es wird einer der schönsten Gottesdienste in meinem ersten Amtsjahr. 

Nach dem Gottesdienst kommt eine Frau aus der Gemeinde zu mir: "Du, da oben liegt ein Mann." Andrew! Ich hatte ihn vergessen. Bis 14 Uhr lasse ich ihn schlafen, dann müssen wir die Kirche schliessen. Andrew zeigt mir die Narben auf seinem Kopf. Der schlechte Zugang zu sanitären Anlagen haben seine Haut zerfressen. Er muss sich unbedingt waschen und ausruhen. Ich wurde schon oft um Geld gebeten und gebe normalerweise kein Bargeld. Bei Andrew ist das irgendwie anders. Ich gebe ihm die £23, die er für die Übernachtung im YMCA Hostel braucht.

Andrew geht. Ich hoffe, dass er wieder einmal vorbeikommt. 

Christ is risen. Alleluja!

Freitag, 28. März 2014

Wie das Kruzifix zur Kirche kam

Bethnal Green - Arrival City. Bis vor wenigen Jahren hat sich kaum einer hierher getraut. Bandenaktivitaeten und Kriminalitaet machten das Viertel im East End Londons zu einer unwirtlichen Gegend. Das ist heute anders. Bethnal Green ist in. Bethnal Green ist trendy. Die Hauspreise rasen in die Hoehe - und verdraengen einkommensschwache Familien.

In Bethnal Green wundert man sich kaum ueber Exzentriker. Die Strassen erinnern an gewissen Tagen an einen ueberdimensionalen Laufsteg. So wunderte man sich auch kaum ueber den Mann, der vor einigen Wochen mit einem meterhohen Kruzifix auf dem Ruecken seines Weges ging. Ein Passant jedoch war verwundert genug, um ein Foto zu machen und es in die Welt zu zwitschern.

Die Gemeinde der St Matthews Church in Bethnal Green wundert sich derweil, wo ihr Kruzifix ist. Es haengt an jenem Morgen nicht wie ueblich ueber dem Altar. Der leidende Jesus ist weg. Jemand hat das Kruzifix gestohlen! Auch das wird in die Welt gezwitschert. Beide Tweets verbreiten sich in Nullkomanichts. Wer ist der Kruzifix-Dieb?

Drei Tage spaeter faehrt ein Taxi vor die Kirche. Ein Mann steigt aus, geht in die Kirche und haengt verschaemt das Kruzifix zurueck. Er entschuldigt sich. Vor einigen Tagen sei er in die Kirche gekommen, wuetend auf Gott, in einer Lebenskrise, habe sich gesetzt, habe gerungen, und kurzerhand das Kruzifix mitgenommen.

Die Welt stand fuer einen Tag Kopf in Bethnal Green: nicht Jesus hat die Last des Mannes geschultert, sondern der unbekannte Mann den gekreuzigten Christus.

Montag, 10. März 2014

Warum Fasten kein Verzicht ist

Zwingli nahm es locker mit dem Fasten. "Kein Christ ist zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet. Er darf also zu jeder Zeit jegliche Speise essen", sagt der Zuercher Reformator. Das Fasten ist in der schweizerischen reformierten Tradition nicht verankert. "Wem das Fasten hilft, zu Gott zu kommen, der faste. Wer auch ohne Fasten die Ruhe, Tiefe und Zeit hat, zu Gott zu finden, der faste nicht," heisst es auf der Webpage der Reformierten Kirche des Kantons Zuerich. Das Fasten wurde in den reformierten Kirchen ueber lange Zeit kaum thematisiert, doch so langsam schleicht sich die christliche Tradition in reformierte Kirchenbaenke zurueck. Das Netzwerk Junge Erwachsene der St.Galler Kantonalkirche zusammen mit dem Bistum St.Gallen fuehrt jedes Jahr die Aktion '40 Tage ohne' durch - da Fasten zusammen einfacher geht. Man tauscht sich aus und kriegt Gedankenanstoesse, die durch die Fastenzeit begleiten.

Traditionen und Konfessionen beiseite - was bringt fasten? Warum tun es immer mehr? Ich habe letztes Jahr zum ersten Mal gefastet, eine neue Art von Fasten, bei der Zwingli wohl nur verwirrt mit den Schultern gezuckt haette: Facebook-fasten. Social Media fasten ist der neueste Fastentrend - und tut genau das mit uns, was wir uns vom Fasten erhoffen: es transformiert.

Bei mir ging das so: Irgendwann im Januar 2013 hat mein Freund besorgt zu mir gesagt, dass ich ja gar keine Buecher mehr lese. Er habe mich schon seit Monaten nicht mehr mit einem Buch in der Hand gesehen. Seit meinen ersten Leseversuchen bin ich als Buecherwurm bekannt, habe mich in der Schule heimlich vom Pult unter den anderen Pulten durch in die Leseecke geschlichen (im Glauben der Lehrer sieht's nicht - der hat aber wohl eher gedacht, da hinten ist sie wenigstens ruhig, tu ich mal lieber so als ob...), habe wagemutig beim Gehen gelesen und mein Leben einigen vorsichtigen AutofahrerInnen zu verdanken, habe meine Buecher in einem Baumloch auf der Bluteiche im elterlichen Garten versteckt, wo ich in angenehmer Hoehe gelesen habe, bis die Buecher von Wuermern zerfressen waren (unersetzliche Biologie-Lektion!). Ich habe nicht mehr gelesen. Das Smartphone hatte meine Konzentrationsfaehigkeit regelrecht zerstoert. Ich war nur noch auf das High der schnellen Information aus, statt auf den entspannenden Effekt des Buchlesens.

40 Tage Facebook Fasten, und ich las wieder. Zwar klebe ich ein Jahr spaeter genauso wieder an meinem bloeden Smartphone (Inbegriff der Hassliebe), aber ich bin auch immer an einem Buch, und wenn ich eins ausgelesen habe, muss das naechste her. Das mit dem Kindle habe ich probiert, aber es hat nicht geklappt. Der hat nur zum Lesestopp beigetragen. Heute schleppe ich wieder richtige Buecher mit in die U-Bahn - die beste Lesestube der Welt.

Ich war beeindruckt vom tranformativen Effekt des Fastens, und wollte dieses Jahr wieder etwas fasten, das mich zu mir zurueckbringt. Und so verzichte ich auf den guten alten Alkohol, der Fastenklassiker, der innert dreier Tage zu den gewuenschten Effekten fuehrt: tiefer Schlaf, innere Ruhe, und einen hellwachen Geist. Transformiert Koerper und Geist in Nullkomanichts! Fleisch habe ich grad auch dazugenommen: wenn schon, dann richtig. Interessanterweise nehme ich das Fasten gar nicht als 'Verzicht' sondern als Gewinn wahr. Man koennte es glatt das ganze Jahr tun.

Aber ich freue mich dann doch wieder auf ein grosses Steak mit Bier im pfarrhaeuslichen Garten.


Freitag, 28. Februar 2014

Verschnaufpause

Gestern noch auf dem verschneiten Gotschnagipfel, Sonne auf der Nase, Wind um die Ohren - heute schon wieder im Ameisenhaufen London. Die Auszeit hat gut getan. Allerdings hat sich bei der Einreise in die Schweiz mit den englischen Freunden ein etwas schales Gefuehl breit gemacht, besonders stark bei der Zugfahrt durchs Rheintal. In einem abgelegenen Tal waren dann schon auch mal laut geaeusserte Kommentare zu hoeren: "Muesch no ufpasse, susch moemmer bald so Asylante bi ois i de Wohnig ufneh!" Leider wirklich so gehoert. Die Schweiz hat ihre Grenzen gesetzt, und entsprechend abfaellige Kommentare scheinen jetzt wieder salonfaehig zu sein. Das Konzept der Grenze habe ich menschlich-emotional noch nie verstanden, auch wenn ich den historischen, wirtschaftlichen und politischen Werdegang der Staatsgrenze durchaus intellektuell nachvollziehen kann. Zur Schoepfungstheologie steht sie aber im scharfen Widerspruch.

Am Mittwoch Morgen bin ich denn auch extra frueh zum Bahnhof St.Gallen gefahren, um mir einen Sitzplatz im 7:11 Zug zum Flughafen Zuerich zu sichern. Doch was fand ich vor? Einen fast leeren Zug. Nun sind zwei Szenarien moeglich: entweder ist die Rede von 'ueberfuellten Pendlerzuegen' masslos uebertrieben... oder der Durchschnittsschweizer sitzt tatsaechlich schon um 7:30 Uhr im Buero!

Ich bin gerne wieder in London, und traeume noch ein bisschen von den verschneiten Bergen, der Stille und Abgeschiedenheit, waehrend um mich herum wieder das Leben tobt. Good to be back!

Montag, 10. Februar 2014

Kontin-was?

Jemand hat mal zu mir gesagt, als Pfarrerin soll man sich mit parteipolitischen Stellungnahmen zurueckhalten. Ich fand das einen weisen Rat und habe ihn - zumindest auf der 'Kanzel' - konsequent befolgt. Seit Sonntag dem 9. Februar 2014 stelle ich diese Einstellung radikal in Frage. Die rechtspopulistische Initiative gegen die Masseneinwanderung in der Schweiz ist mit hauchduenner Mehrheit durchgekommen. Ich weiss nicht, wann ich mich letztes Mal politisch so ohnmaechtig gefuehlt habe, und ob ich ueberhaupt je in meinem Leben von meinem Heimatland so abgrundtief enttaeuscht war. Ich frage mich, wer alles zu diesem Ja beigetragen haben mag. Ich frage mich, was die Menschen sich eigentlich denken und ob das wirklich der Ort ist, in dem ich eigentlich ganz gerne aufgewachsen bin.

Ich schaeme mich. Ganz besonders als Theologin und Pfarrerin. Ich bin traurig fuer alle meine nicht-schweizerischen Freunde, die schon so lange in der Schweiz leben, und die ihren 'Auslaenderausweis' heute mit einem diffusen Gefuehl in die Hand nehmen und sich fragen, ob sie ins 'Kontingent' passen. Ich zittere mit all denjenigen, die noch in die Schweiz kommen und als Teil der 'Kontingentmasse' angeschaut werden - vor allem die Menschen, die eine schwierige Reise hinter sich haben und bei Null anfangen muessen. Ich leide aber auch mit allen mit, die so gegen diese Initiative gekaempft haben und heute wohl kaum aus dem Bett gekommen sind. Und dann fuerchte ich mich auch fuer das Land Schweiz, fuer die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die dieser Entscheid mit sich bringt. Doch das nur an zweiter Stelle.

Gastfreundschaft ist eines der hoechsten Gueter, die ein Mensch besitzt und das mindeste, was wir geben koennen. Niemand hat gesagt, dass Gastfreundschaft immer einfach ist. Gaeste koennen richtig nerven. Sie kommen zur falschen Zeit, machen sich breit, wollen genaehrt und betreut sein und brauchen den letzten Schluck Milch auf, den man eigentlich fuer die Cornflakes vorgesehen hatte. Die United Reformed Church hat in ihrem Begleitbuechlein 'Radical Welcome' auf die Herausforderung hingewiesen, die mit radikal offenen Tueren verbunden sind. Gewisse Menschen behagen uns nicht, sind so ganz anders wie wir, sind schwer zu fassen, verhalten sich anders - und das kann uns belasten. Als meine sechskoepfige Verwandtschaft aus Hamburg sich ueber Weihnachten bei mir eingenistet hat, hat meine Tante bei der freudigen Begruessung lachend zu mir gesagt: "Auf Besuch freut man sich immer zweimal: wenn er kommt und wenn er geht." Niemand hat gesagt, Gastfreundschaft sei einfach. Es gibt eine Uebergangszeit, in der die Gaeste auf uns angewiesen sind; je fremder das neue Umfeld ist, desto mehr. Das war schon immer Bestandteil der Gastfreundschaft. Wenn die Gaeste laenger bleiben, dann sind sie irgendwann keine Gaeste mehr, sondern unsere Nachbarn und Mitarbeiterinnen, unsere Vorgesetzten und Pfleger.

Die Gaeste, das sind auch wir. Wir nerven, wir machen uns breit, wir essen unserem Gastgeber das letzte Joghurt weg und wollen von ihm wissen, wie wir am besten von A nach B kommen. Die Gaeste, das sind wir. Wir sind im Weg und haben Hunger. Ich verstopfe jeden Tag die bereits verstopfte U-Bahn noch ein bisschen mehr. Ich belege Wohnraum in einer hoffnungsvoll ueberfuellten Stadt. Ich bin Teil eines Ameisenhaufens, in dem ich nicht aufgewachsen bin, und ich bin schon lange kein Gast mehr hier.

Ein Gutes hat das beschaemende Abstimmungsresultat: es mag als Warnschuss fuer Cameron wirken, denn die hiesige Politik rast auf aehnlich menschenverachtende Entscheide zu. Falls Cameron die naechsten Wahlen gewinnt, hat er dem Stimmvolk eine Abstimmung ueber das Verbleiben Grossbritanniens in der EU versprochen. Dahinter steckt der gleiche Hass auf 'Fremde', die kommen, um zu bleiben. Man kann nur hoffen, dass die EU so vehement auf die Verfassungsaenderung reagiert, dass andere Laender merken: so geht das nicht. So koennen wir nicht zusammen auf einem Kontinent leben, der seinen Reichtum auf der Armut anderer Weltregionen baut und deshalb konsequenterweise eine Verpflichtung zu Gastfreundschaft und Integration hat. Gaeste werden Freunde werden Nachbarn. Das gilt besonders fuer Europa, das eine uralte Tradition der Gastfreunschaft kennt.

Und die Kirchen? Wir muessen uns ueberlegen, wie es eigentlich mit der Kontingentierung in unseren Gemeinden steht. Sind wir radikal gastfreundlich oder sagen wir es nur? Lassen wir uns auf die anstrengenden Seiten des Gastegeberseins ein und veraendern uns dadurch, oder meinen wir nur diejengen, die aehnlich sind wie wir, so dass wir bleiben wie wir sind?

Jetzt erst recht: Kirche kennt keine Kontingente.

Freitag, 10. Januar 2014

You don't have to be an Atheist to worship here, but it helps.

Fashion, Musik, Kunst... ueberall setzt London Trends und die Menschen stroemen in Massen in die britische Hauptstadt, um sich einer modischen Generalueberholung zu unterziehen (die dann in heimischen Gefilden meist wieder ganz hinten im Kleiderschrank oder CD-Gestell verschwindet).

Doch nicht nur in saekularen, sondern auch in religioesen Belangen setzt London Trends. Der neuste Trend, nebst den bald schon gestrigen 'Fresh Expressions', ist die Auslotung der Grauzone zwischen saekular und sakral. Waehrend Kirchenmenschen ueberall in Europa ueber die Chancen und Grenzen der Entsakralisierung der Gesellschaft und moegliche Handlungsspielraeume diskutieren, Konferenzen abhalten und Buecher drucken, findet in London eine leise Revolution statt. Wir wissen mittlerweile alle, dass unsere entkirchlichte Generation ein grosses Sehnen nach Spiritualitaet und Gemeinschaft hat, dass die liturgische Sprache und die kirchliche Institution diese Beduerfnisse jedoch oft nicht abdecken koennen, da sie einfach zu fremd und zu hierarchisch besetzt sind. Spiritualitaet ohne 'JHWH', oder "Religion fuer Atheisten" - wie Alain de Bottom das nennt - entwickelt sich zu einer lebendigen Bewegung.

"You don't have to be an Atheist to worship her, but it helps."

So heisst der Slogan der 'Sunday Assembly', eine Sonntagsgemeinschaft gegruendet von zwei Schauspielern 'to give non-believers something fun to do'. Sie singen leichtherzige Lieder wie 'I need a hero', klatschen in die Haende und erinnern in vielem an evangelikale Gottesdienstformen - nur ohne Kreuz, ohne Trinitaet, ohne Abendmahl und ohne Bibelbezug.

Die aeusserlichen Aehnlichkeiten zum evangelikalen Gottesdienst sind so frappant, dass sich der Autor eines Artikel im Ausgehmagazin TimeOut fragt, ob die Sunday Assemblies nicht eine Verarschung derselben seien. (Woertlich: "... you wonder if it's a pisstake.") Doch die Gruendervaeter (ja, Vaeter) sind sich einig: religioese Menschen haben meistens Verstaendnis fuer ihre Form von 'Nichtgottesdienst'. Probleme haben sie mit fundamentalistischen Atheisten, die kritisieren, dass ihre Art nicht an Gott zu glauben nicht richtig sei. ("They say the way we don't believe in God is not the right way to not believe in God.")

Alain de Bottom ist kein Fan der Sunday Assembly. Er bezeichnet die Bewegung schlichtwegs als Abzockerei. Der Autor besagten Artikels wuerde sich als geborener Pole eher einen Ersatzgottesdienst in Anlehnung an den roemisch-katholischen Gottesdienst seiner Kindheit wuenschen - sein erster Besuch bei der Sunday Assembly war wohl auch sein letzter.

Dem haelt ein Priester der anglikanischen Kirche entgegen, dass der Hunger nach Gemeinschaft in einer individualisierten Gesellschaft sehr ernst genommen werden soll:  "The Sunday Assembly is catering for this hunger."

Und was zieht 200-300 Menschen jeden Sonntag in die Sunday Assmebly, die am schnellsten wachsende 'religioese' Bewegung in der britischen Hauptstadt? Ein Mann erklaert, er habe sich nach einem traditionellen Christmas Carol Service  gefragt:"How cool would it be if the centre of this there was something I did believe in and not something I didn't?"

Und was denkt die Autorin dieses Blogs? Ich habe grundsaetzlich nichts gegen experimentelle Formen gemeinschaftlichen Zusammenseins, die sich an kirchlichen Werten ausrichten - ja, ich finde alle Art sakralen Experimentierens hervorragend. Meine Kritik: Eine humanistische oder religioese Wertegemeinschaft, ganz egal wie sie sich nennt, ist nicht einfach etwas 'fun to do', sondern muss weitreichende Konsequenzen fuer das Denken und Handeln der Menschen haben. Meine Selbstkritik: Die Popularitaet dieser Bewegung weist auf ein Problem in unseren Kirchen hin: dass es uns an Mut oder Kreativitaet mangelt, entkirchlichten Menschen den Zugang zur kirchlichen Sprache zu ermoeglichen. 'Sprache' umfasst nicht nur das geschriebene oder gesprochene Wort, sondern vor allem auch das Nicht-Wort, die Stille, Symbole und Bilder, Musik und Gemeinschaftserfahrung, die uns zum Mysterium des Glaubens hinfuehren - zu dem, wonach es uns sehnt und wonach wir suchen: das Goettliche, das Unaussprechbare, das Ziel unserer Sehnsucht, 'JHWH'.

Es ist erstaunlich, wie anziehend eine kerzenlichtdurchflutete Kirche mit offenen Tueren und einem warm-zurueckhaltenden Empfang auf die Menschen wirkt. Meine Erfahrungen in der Swiss Church in London lassen mich sogar Fragezeichen hinter das neue kirchliche Dogma setzen, dass es nur darum gehe, als Kirche zu den Menschen zu gehen, statt die Menschen zur Kirche kommen zu lassen. Vielleicht ist dieses Dogma eben auch nur die halbe Wahrheit. Denn ploetzlich fragen die BesucherInnen, was es eigentlich mit dieser Trinitaetsikone auf dem Informationsblatt und mit dem Kreuz vorne an der Wand ueber diesem Tisch auf sich hat.

Donnerstag, 2. Januar 2014

Adevnt in der Swiss Church



Ich habe einen Neujahrvorsatz: oefters bloggen. Bereits wird der Baumschmuck wieder in den Keller verstaut, und die Krippenfiguren gehen auch wieder in Sommerschlaf. Wie ging die Zeit bloss so schnell vorbei?

Der Dezember in der Swiss Church war ereignisreich und besinnlich. Jeden Adventsdonnerstag boten wir den PassantInnen und Freunde der Kirche eine Stunde 'Sit in Silence'. Die Steine der Klagemauer, die ich bereits fuer den Gottesdienst an Allerheiligen benutzt hatte und die urspruenglich von einer Kunstausstellung stammen, bildeten ein kleines Mauerlabyrinth. In der Eingangshalle wurden Tee und Kaffee ausgeschenkt, waehrend der kerzenlichtdurchflutete Kirchenraum zum Raum der Stille wurde - Kloster in der Grossstadt. Die Kerzen auf den Treppenstufen und die warme Atmosphaere zogen viele Leute von der Strasse an, die sich in Gebet und Meditation vertieften und von der stillen Stunde profitierten.



Doch auch Musik erfuellte die Kirche oft waehrend der Adventszeit. Zum ersten Advent hielt ich eine Dialogpredigt zusammen mit einer Sopranistin und liess mich von ihrer Musikwahl zum Predigen inspirieren. "When Elisabeth heard Mary's greeting..." war das Thema der Predigt.

Am zweiten Advent hatten wir einen Christmas Carol Service - eine ganz wichtige Tradition in England. Auf allen Plaetzen, in allen Konzerthallen und Kirchen ertoenen in der Weihnachtszeit die traditionellen Weihnachtslieder. Zu diesem Anlass besuchte uns der Chor Dieci Voices. Anschliessend gab es Gluehwein und Mince Pies.

Der Familienggottesdienst fand am dritten Advent statt, und die Kirche war voller Menschen, jung und alt, die ihre Wuensche an den Christbaum hingen, der Krippengeschichte lauschten, ja sogar 'Das isch de Stern vu Bethlehem' sangen - und sich am Licht der 'Christingles' (Orangen mit einem roten Band, einer Kerze und aufgesteckten Suessigkeiten) freuten. Der Samichlaus kam zwar nicht, trotzdem konnten die Kinder ein Geschenk unter dem Tannenbau abholen.
 


An Heiligabend gab es einen fruehabendlichen informellen Weihnachtsgottesdienst mit der Lesung der drei Geburtsgeschichten aus Lukas, Matthaeus und Johannes. Danach ging's ab ins Pub im fast leeren Covent Garden - in England ist der Hauptweihnachtstag naemlich der 25. Dezember.