Montag, 11. Mai 2015

Importgut Hoffnung

Die Menschen aus Afrika und Asien, die sich auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer oder über die grüne Grenze nach Europa machen, bringen etwas mit, was uns in Europa schon lange abhanden gekommen ist. Dieses Gut ist stärker als jede Küstenwache, entbehrt öfters mal jeglicher Vernunft und ist dazu noch kostenlos:

Hoffnung

Laut Wikipedia ist Hoffnung "eine zuversichtliche innerliche Ausrichtung, gepaart mit einer positiven Erwartungs­haltung, dass etwas Wünschenswertes in der Zukunft eintritt, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht."

Europa hat sich vom Prinzip Hoffnung entfremdet. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale der Resignation, die in einer tiefen Verlustangst wurzelt. Auch wenn wir es noch nicht so richtig wahrhaben wollen, so wissen wir doch, dass Europa der 'alte Kontinent' ist und wir in Zukunft nicht mehr so viel zu sagen haben werden, wie wir das gewohnt sind. Die Resignation geht schon so weit, dass wir die uns einst vereinende Hoffnung zu verhandeln bereit sind: das Ideal universell gültiger Menschenrechte. Hoffnung - das ist höchstens noch etwas für illusionäre Weltverbesserer und gottesgläubige Menschen, die sowieso nicht so recht ins Schema der Vernunft passen. Die Vernunft beschränkt sich auf das Beobacht- und Erklärbare und macht eben gerade da Halt, wo die Hoffnung erst richtig in Schwung kommt: im Bereich des Ungewissen. Wenn man Europa ganz vernünftig betrachtet, dann kann einem wirklich Schmuch werden. Wir haben eigentlich vor allem viel zu verlieren, als Kontinent ebenso wie als Individuen. Das Wirtschaftswachstum stagniert, prekäre Lebenssituationen sind für die Mehrheit Standard, und die Zukunft im internationalen Kräftemessen sieht für Europa nun mal wirklich nicht rosig aus. Wir sind deprimiert.

Doch es gibt auch in Europa diese Orte der Hoffnung, und zwar da, wo schon fast gar nichts mehr geht. Diese Tage muss die griechische Regierung entscheiden, ob sie dem Druck der Gläubiger nachgibt, oder an ihrem Wahlversprechen festhält, sich von der Troika nicht in die Knie zwingen zu lassen. Gerade da, wo die Situation ausweglos erscheint, wächst etwas Neues. Selbstversorger-Komunen nehmen stetig zu. Lehrer, Forscherinnen, Arbeiter und Künstlerinnen schliessen sich zusammen, um ein selbstversorgerisches Leben zu führen, das die Abhängigkeit von den anstehenden politischen Entscheiden dämpft. Prinzip Hoffnung.

Und dann sind da eben diese Menschen, die zu tausenden auf der kleinen Insel Lampedusa, auf Malta und in Griechenland regelrecht angeschwemmt werden. Diese Menschen lassen sich weder von migrationspolitischen Gesetzesdebatten oder nationalen Souveränitätsansprüchen noch vom fatalen Abbruch des Rettungsprogramms Mare Nostrum beeindrucken. Sie haben in Hülle und Fülle das eine Gut, das sie nach Europa bringt: Hoffnung. Sie bringen das wichtigste Importgut nach Europa, das entscheidende Element, das uns fehlt, und wir nehmen es nicht einmal wahr.

Die Hoffnung auf gutes Leben übersteigt die Todesangst bei weitem. In den überfüllten Auffanglager in Libyen zu bleiben, wo Hunger und Gewalt herrschen, ist keine Option. Zurück ins Heimatland ist auch kaum eine Option. Die Rückfahrt ist zu teuer, die meisten Botschaften afrikanischer Länder in Tripolis sind geschlossen, und Flüchtlinge aus Eritrea werden von ihrem eigenen Staat nach der Flucht sogar als Verbrecher behandelt. Also gibt es nur die gefährliche Flucht nach vorne.

Für Europa gibt es zwei Auswege:

Entweder geben wir uns ganz dem Sog der Verlustangst hin, bauen Zäune und Grenzen, um uns noch ein bisschen unsere Scheinsouveränität und -sicherheit zu bewahren. Auf diesem Weg verkrampft sich Europa in der Hoffnungslosigkeit und wird für immer die Schuld tragen an einer der grössten humanitären Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Wo keine Hoffnung ist, ist auch keine Zukunft.

Oder wir geben uns der Hoffnung hin, die gratis und chaotisch jeden Tag auf unseren Kontinent gelangt, lassen uns davon mitziehen und setzen diese positive Grundhaltung konstruktiv ein. Nur wo Hoffnung ist, ist auch Wachstum. Hoffnung ist das wichtigste Importgut für Europa. Die Hoffnungsmenschen werden unseren Kontinent radikal verändern, das ist gar keine Frage, und die Veränderung birgt grosse Ungewissheit. Aber genau in dieser Ungewissheit werden die zarten Pflanzen der Hoffnung wachsen.