Donnerstag, 8. September 2016

Und vergib mir meine Sünden...



Sobald mal als Pfarrerin das Wort 'Sünde' sagt, begibt man sich auf Glatteis. Es gibt wohl kaum einen anderen Begriff, der im kollektiven Gedächtnis so grossen Schaden hinterlassen hat. 



Warum ist das so? Jahrhundertelang hat die Kirche den Sündenbegriff als Machtinstrument missbraucht, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen (das Fegefeuer droht!) und so an sich zu binden. Denn nur der geweihte Priester konnte den Sünder frei sprechen. In vielen Kirchen hat sich das geändert. Die Reformatoren haben sich im 16. Jahrhundert dagegen aufgelehnt und gesagt: wir Gläubigen brauchen keine Priester, die zwischen uns und Gott vermitteln. Wir können diese Beziehung direkt pflegen, und also auch direkt um Vergebung bitten. 



Doch nicht nur das hierarchische Gehabe der Kirche hat dem Sündenbegriff Schaden zugefügt. Die Sünde wurde aufs engste mit Körperlichkeit und Sexualität verknüpft und hat uns Menschen in der Folge von uns selber entfernt und grosses Leiden verursacht. Wir sind nicht nur Geist. Wir sind auch Körper, und wir sind nur dann frei, wenn sich Körper und Geist gleichermassen entfalten können. Ein einfaches Beispiel: Wenn's bei mir im Oberstübchen klemmt, dann muss ich rennen gehen, um den Geist wieder ins Laufen zu bringen. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit geht an die Seele. 

Die Unterdrückung der menschlichen Sexualität hat ein tiefes Trauma ausgelöst, aus dem wir uns nur allmählich lösen. Doch immer noch lauern Kirchen an allen Ecken, die die alte Leier spielen, sowohl traditionelle Kirchen wie auch neue Kirchen im poppigen Gewand: Sex vor der Ehe, Masturbation, Sinnlichkeit, Familienplanung, gleichgeschlechtlicher Sex - alles Sünden, die uns von Gott trennen. Dieses moralisierende Sündenverständnis hat ein weiteres Problem: es reduziert die Beziehung des Gläubigen zu Gott auf eine sehr individuelle Angelegenheit. Wenn ich einem einfachen Rezept, quasi einer klar definierten To Do Liste folge, dann bin ich im Reinen mit Gott und der Welt. Doch die Welt, wie wir sie jeden Tag erfahren, ist so viel komplexer, so viel komplizierter, und ob wir das wollen oder nicht: wir sind Teil von diesem grösseren Ganzen, das unsere Ego-Beziehung mit Gott bei Weitem überschreitet.

Für viele ist die Sünde passe, und wenn sie überhaupt noch vorkommt, dann ganz trivial. Schokoladenmarken werben mit dem Sündenbegriff ebenso wie Jeansmarken und Restaurantketten. In London gibt es ein asiatisches Nudelrestaurant namens 'SIN'. Das steht für 'Salvation in Noodles'. (Sehr empfehlenswert übrigens!) Wir lachen über die Sünde und verbannen sie ins Reich der Phantasie. Die Sünde hindert uns, unser Leben frei und glücklich zu leben.
  
Ich sage: wir brauchen das Sündenbekenntnis mehr denn je. Nicht die Trivialisierung oder die Moralisierung der Sünde führen zur Freiheit, sondern das Bekenntnis zu unserer Sündhaftigkeit.

Sünde und Freiheit- wie geht das? 

In unserer Gesellschaft haben sich zahlreiche neue Religionen breit gemacht. Der Weg zu Glück und Erlösung führen über die richtige Ernährung, die neusten Modetrends, exzessiven Sport, Meditation und Positive Thinking... (die übrigens alle durchaus auch eine Rolle in meinem Leben spielen, wenn auch nicht exzessiv). Wir sehnen uns nach Erlösung von dem, was uns belastet und von dem, was das Leben uns oft ungefragt in den Weg wirft. Wir wollen vergessen, überwinden, rein sein. Wir wollen Erlösung vom Gefühl der Lebenslast. Viele neo-spirituelle und trendig-religiöse Angebote versprechen genau dies: wenn man alles richtig macht, dann kann man quasi per sofort rein sein und super-glücklich. Die Wahl ist gross. Und der Druck auch. Welche ist denn nun die richtige Wahl? Was muss ich tun, damit auch ich mich von allem Unangenehmen abheben kann? 

Die Grundannahme, dass wir uns den Zustand des Erlöstseins aktiv erarbeiten können, macht uns unfrei und ist oft egoistisch. Die einen wollen einen möglichst körperfreien Zustand erreichen, die anderen sind auf ihren Körper fixiert und vergessen darüber den Geist. Schon kurz nach der Reformation hat sich dieser Krampf breit gemacht, als man dachte, dass ein fleissiger und arbeitsamer Lebensstil gottgefällig ist. Denn wenn der Priester nicht vermittelt, dann muss man halt selber an diese Sache ran. Mit viel Arbeit. Die protestantische Arbeitsethik hat sich blitzeschnell in unserer Gesellschaft breit gemacht und hockt uns heute noch im Nacken.

Also was jetzt?

Stehen wir doch einfach einmal hin und sagen laut: ich bin eine Sünderin! Oder auf modern: ich verbock's immer wieder! 

Es gibt zwei Arten von verbocken, oder sündigen. Einerseits ist da die individuelle Sünde. Beispiel: ich sage zu einem geliebten Menschen im Affekt etwas, von dem ich weiss, dass es ihn verletzt. Ich sage es trotzdem. Dann gibt es andererseits die strukturelle Sünde. Beispiel: als weisser Mensch bin ich verstrickt in die Geschichte der Versklavung schwarzer Menschen und die traumatischen Konsequenzen, die über Generationen weiter getragen werden, und das obwohl die Sklaverei bei meiner Geburt gar nicht mehr existiert hat. 

Ich bin mit mir selber, mit meinem persönlichen Umfeld, mit der Nachbarschaft, Gesellschaft und der ganzen Menschheit eng verknüpft und alle meine Handlungen und Gedanken haben Konsequenzen, gute wie schlechte. Ich kann mich daraus gar nicht erlösen. Ich kann mich höchstens daraus weg wünschen und meine Verantwortung in der Schöpfung ignorieren. Oder ich kann hinstehen und sagen: ja, ich bin Mensch, und ja, ich verbock's. In der Kirche wird diese Einsicht mit der Taufe zum Ausdruck gebracht.

Jesus hat sich taufen lassen. Warum eigentlich? Ist nicht gerade er, der Sohn Gottes, ohne Sünde? Eben nicht, und das ist der Punkt. Jesus war Gott und Mensch, und als Mensch eben ganz und gar sündhaft. Man kann eben nicht Mensch sein und sich aus der Schöpfungsverantwortung stehlen. Nicht mal Gott kann das.

Super, eigentlich. Einmal hinstehen, taufen lassen, Sündhaftigkeit eingestehen, Vergebung empfangen und aus die Maus. Aber so einfach ist es eben nicht. Das Hinstehen und der Ausruf: ich bin Snder! ist an zwei Bedingung geknüpft: erstens, dass wir einsichtig bleiben und die Vergebung immer wieder suchen, ein Leben lang, und zwar auf allen Ebenen: bei den Mitmenschen und der ganzen Menschheit, die man verletzt, gewollt oder ungewollt. Bei sich selber, dafür, dass wir uns oft so verrennen und wir so fürchterlich streng mit uns selber sind, perfekt sein wollen und unsere eigenen Grenzen nicht anerkennen. Und ganz bestimmt bei Gott, Urgrund des Lebens auf dem wir alle stehen und Quelle aller Vergebung, auch dort, wo unsere eigene nicht hin reicht. Und zweitens, dass wir das Zugeständnis der Vergebung als Kraftquelle nutzen um zu ändern, was wir ändern köönnen, wohlwissend, dass es nie reichen wird, und trotzdem die Hoffnung auf Gerechtigkeit nie aufgeben. 

Wir müssen nicht perfekt sein. Wir müssen einfach dran bleiben. Mit Geist, Körper und Seele.