Freitag, 17. Februar 2017

Die doppelte Liebeserklärung

Ich bin ja eigentlich echt ein Glückspilz. Meine bessere Hälfte hat nämlich einen richtig geilen Job. Er produziert Musik, und das mittlerweile auch oft in unserem grossen Londoner Pfarrhaus. Während ich also oben meine Predigt schreibe und in den grünen Garten schaue, wo die Füchse nachts ihr Unwesen treiben und die Rotkehlchen tagsüber um die Wette zwitschern, klingen von unten allerhand Töne nach oben. Gerade bastelt Tony Kaye unten an seinem neuesten Film. Ich gehöre zur Kategorie Mensch, für deren Konzentration ein Klangteppich im Hintergrund förderlich ist. Grüne Wiesen, Vögel, Stimmen und Musik. So lässt es sich arbeiten.

Pfarrmann Julian sitzt regelmässig bei mir in der Predigt (die er meist schon kennt, weil er sie in den Tagen zuvor kritisch lesen muss). Ein Agnostiker mit jüdischen Wurzeln und verankert in der ausserkirchlichen Welt nimmt er jeden schwammigen Kirchensprech gnadenlos ins Visier. Er entlarvt diese als faule Ausreden, wenn ich eigentlich nicht so richtig weiss, was ich sagen will. Im Vergleich hat mein Pfarrmann in seiner Jugend ja auch viel mehr Gottesdienste besucht als ich. Von Kirchensprech hat er also eine Ahnung. Während ich als junge linke Atheistin-Agnostikerin (deren Seele nach wie vor in meiner Brust schlägt) bei Juso-Veranstaltungen und auf Demonstrationen aufschlug, war Julian als Chorbube im Sängergewand in den Kathedralen Englands unterwegs. Wir haben uns dann irgendwo in der Mitte getroffen.

Im Gegenzug begleite ich Julian regelmässig zu Gigs in Londoner Clubs. Das ist der beste Ausgleich zu manchmal schwierigen Seelsorgebegegnungen, theologischen Krisen und Verantwortungslast. Meine eigene Vergangenheit als Sängerin einer Band liegt zwar Jahre zurück, und meine sängerische Tätigkeit beschränkt sich heute auf das Singen von Kirchenliedern, aber die Welt der Popmusik ist nach wie vor das beste Seelenfutter: das schummrige Licht, die Anonymität, existentielle Lyrik und Melodien, die direkt ins Herz zielen. Hier fühle ich mich oftmals eins mit der Welt und mit allem, was die Welt umfasst. Die Sinnfrage verliert ihre Dringlichkeit. Gebete in der Kirche schaffen das selten.

Kürzlich war ich im Camden Jazz Club am Konzert der wundervollen Beth Rowley. Sie wurde begleitet von Josh Savage. Beide sind regelmässig zu Gast im Pfarrhaus-Studio. Irgendwann hat Josh von der Bühne herunter gesagt: "Viele meiner Freunde hätten eigentlich Künstler oder Musikerinnen werden sollen. Aber sie haben sich eingeredet, dass das doch eh zu nichts führt und haben jetzt irgendwelche 9-5 Jobs. Es gibt so viele, die nie geworden sind, was sie sein wollten und sein sollten." Ich stand so da mit meinem Bier in der Hand und fühlte mich von diesen Sätzen unheimlich angesprochen. Kennt ihr, oder? Darin sind sich Pfarrerinnen und Lyriker ja sehr ähnlich: gelungen sind Worte dann, wenn sich möglichst viele Zuhörende individuell angesprochen fühlen. Das wiederum setzt eine gehörige Portion Authentizität voraus.

Wie ich also so da stand und mich individuell angesprochen fühlte, habe ich mir überlegt: bin ich geworden, was ich werden wollte?

Ich rekapitulierte: Bäuerin, Anwältin (Kampf für die Gerechtigkeit), Archäologin, Lehrerin (in der Lehrerinnen-Verehrungsphase), Wildtierphotographin, Gärtnerin (die fetten Würmer in der Schnupperlehre haben mich abgeschreckt), Auslandkorrespondentin, Politikerin (Bundesrätin natürlich), Reiseleiterin (ist heute quasi mein Hobby im privaten Bereich), Schauspielerin, Historikerin für Mittelalter (oder Altes Ägypten), Sängerin, Museumspädagogin, Journalistin, Kamerafrau.

Fazit: Ich bin nicht geworden, was ich sein wollte. Nichts davon.

Pfarrerin stand nie auf der Liste. Im Gegenteil. Als mir im Theologiestudium schwante, welche Berufsperspektiven sich da am Horizont zusammenbrauten, habe ich mehrmals die Flucht ergriffen. Im Schlund des Wales bin ich nie gelandet. Aber an vielen anderen Orten. Es waren gute Orte. Durchgangsstationen. Bis ich mir dann schliesslich doch den Talar übergezogen habe.

Nein, ich bin nicht das geworden, was ich sein wollte.

Ich bin genau das geworden, was ich sein will.

Mittwoch, 1. Februar 2017

Es kann nur schief gehen!

Oft werde ich gefragt, ob meine Liturgie an der Swiss Church in London eigentlich typisch reformiert sei, oder inwiefern sie sich von Gottesdiensten in der Schweiz unterscheidet. Ich weiss nie so genau, was ich darauf antworten soll, zum einen, weil ich kaum eine Vergleichgrösse habe, denn das hier ist ja meine erste feste Pfarrstelle. Zum anderen, weil ich innerhalb der reformierten Kirche eine so unglaubliche Vielfalt erlebt habe, dass es für mich die typisch reformierte Liturgie eigentlich gar nicht gibt. Ich habe Heilungsgottesdienste erlebt und habe dabei selber Hand aufgelegt. Ich habe Gottesdienste mit DJ erlebt, und stille Meditation im Kreis. Ich habe befreiungstheologische Gottesdienste erlebt und ökumenisch ausgerichtete. Ich habe ganz traditionelle Gottesdienste erlebt, solche mit Herz und solche ohne. 

Ist meine Art der Gottesdienestleitung typisch reformiert? Natürlich, denn reformiert-sein ist Teil meiner Identität. Die Abendmahlsliturgie mit Gesang und Vergebungsgebet mag zwar katholisch anklingen, aber sie entspringt meinem reformierten Sehnen und Glauben. Der Friedensgruss ist bei uns so selbstverständlich wie das Amen nach dem Gebet. Ich nenne unsere Form des Gottesdienst feiern am liebsten reformiert-ökumenisch, denn die Menschen, die mitfeiern, sind katholisch, reformiert, anglikanisch, liberal, evangelikal, agnostisch. 

Diese Woche war eine Gruppe kantonaler Kirchenleitender und RepräsentantInnen der Akademien zu Gast in London. Wir hatten angeregte Gespräche mit Kirchenleitenden der anglikanischen Kirchen. Die englische Kultur hat schon immer eine grosse Faszination auf uns Schweizer ausgeübt. Unterwegs habe ich einem meiner Schweizer Kollegen erzählt, was das eigentlich mit einem macht, wenn man seine Predigten auf Englisch hält statt auf Deutsch, und da hat er zu mir gesagt: "Das musst du unbedingt einmal der Gruppe erzählen!" Auf der Reise war keine Zeit mehr, aber das Gespräch hat mich nicht mehr los gelassen, und so möchte ich hier diesen Gedanken weiter verfolgen. 

Ja, was unterscheidet denn die aufbrechende anglikanische Kirche von der suchenden reformierten Kirche? 

Oft denken wir, es ist die Hierarchie. Wenn wir nur einen Bischof hätten, der mal ein bisschen aufräumen könnte! 

Oder wir denken, es sei die orthodoxe theologische Linie. Diese Engländer reden so offen und hemmungslos von Jesus Christus und Mission!

Ich aber glaube, vieles hängt an der Kultur und an der Sprache und viel weniger an unseren konfessionellen und ekklesiologischen Unterschieden.

Die ersten zwei Jahre meiner Predigttätigkeit auf Englisch waren harzig, Über einer Predigt habe ich mindestens einen vollen Tag oder zwei gebrütet, im krampfhaften Versuch meine deutschen Schachtelsätze ins Englische zu transferieren. Mein Pfarrmann musste Abende damit verbringen, meine Predigten zu lesen und hat oft den Sinn nicht erfasst. Irgendwann hat er mich einmal gefragt, weshalb ich denn immer so lange und komplizierte Sätze mache. Ich solle doch die Sache einfach auf den Punkt bringen und die Sätze um einen Drittel kürzen. Von da an habe ich Schritt für Schritt gelernt, nicht nur auf Englisch zu predigen, sondern auch auf Englisch zu denken. Das Predigtschreiben viel mir immer leichter. Die Sätze wurden kürzer, prägnanter und bildhafter. Aber nicht nur das! Meine theologisches Denken hat sich verändert. Englisch ist eine sehr bildhafte und lebendige Sprache mit einem unglaublichen Wortschatz. Mein Denken und Reden über Gott wurde entsprechend eloquenter und weniger gstabig. Ich verlor die Angst vor Wörtern. Ich verlor die Angst, Dinge einfach mal stehen zu lassen. Anders als ich das aus dem (Schweizer-)deutschen gewohnt bin, muss nicht immer alles gleich noch relativiert werden. Das hat sicher auch mit der Berufserfahrung zu tun, aber zu einem grossen Teil auch mit der Sprache. Ich fühle und denke anders auf Deutsch oder auf Englisch. Lebhafter, selbstbewusster und unbeschwerter auf Englisch, tiefergreifender aber auch schwerfälliger auf Deutsch. Manchmal gibt es Inhalte, die kann ich auf Deutsch genau erfassen, aber auf Englisch geht der Sinn verloren, und vice versa. 

Aber nicht nur die Sprache beeinflusst das Handeln und Denken. Immer mit dem Risiko pauschalisierend zu wirken, würde ich den schweizerischen und englischen Arbeitsstil so unterscheiden: in England liegt der Schwerpunkt auf trial and error. Wir machen mal, und schauen, was daraus wächst. Wenn es nicht läuft, machen wir halt was anderes. Man traut sich gegenseitig was zu, und sich selber auch. In der Schweiz liegt der Schwerpunkt auf detaillierter Projektplanung. Ich staune manchmal, wenn mir meine KollegInnen erzählen, was sie alles vorlegen müssen, um ein Projekt zu starten, wie intensiv das im Vorfeld diskutiert und danach analysiert werden muss. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die der anderen ist viel weniger ausgeprägt. Man ist erst mal skeptisch. 

Was ich mir hier auch angeeignet habe: Lob auszuteilen und Lob entgegenzunehmen, motivieren statt ständig hinterfragen. Die Dinge laufen lassen. Aufmerksam sein und freuen, wenn etwas gelingt.Nicht gleich mit dem Auswertungsbogen kommen, um empirisch zu erfassen, weshalb das nun geklappt hat. Besser geht man ins Pub und feiert den Erfolg!

Meine innere reformierte Zerrissenheit und meine agnostische Grundhaltung habe ich deshalb nicht verloren. Sie ist da und sie gehört zu meiner DNA. Manchmal kommt Jesus ganz locker über die Lippen, dann wieder verstecke ich ihn eher verschämt im Hintergrund. Aber auch die Thomas-Momente kann man doch mit viel Herz und Überzeugung an den Mann und die Frau bringen. Mit Überzeugung glauben, und mit derselben Überzeugung zweifeln!

Brauchen wir Reformierten eine episkopale Hierarchie? Brauchen wir eine orthodoxere Theologie? Nein! Auch mit der Theologie einer Zweiflerin in einer basisdemokratischen Gemeinde kann man klare Sprache sprechen und überzeugt in die Welt hinaustreten, wenn wir uns nur die Freiheit geben und das Vertrauen schenken. 

Und einfach einmal das Trial and Error Prinzip anwenden und schauen, was der heilige Geist so vor hat! Es kann nur schief gehen. Das zumindest kann ich garantieren.